Auf dem Weg zum mündigen Bürger: Reform der Altersversorgung am Beispiel Chile

José Piñera

Das Gespenst bankrotter staatlicher Rentensysteme

Ein Gespenst geht um die Welt – der Bankrott der staatlichen, auf dem Umlageverfahren aufgebauten Rentensysteme. So unterschiedlich die Situation von Erdteil zu Erdteil und von Land zu Land auch ist, so deutlich lassen sich die gemeinsamen Ursachen der Misere erkennen. Im Umlageverfahren zahlt die arbeitende Bevölkerung ihre vom Staat oder Kollektiv festgelegten Abgaben in die Rentenkasse ein und die nicht mehr arbeitende Bevölkerung bekommt eben dieses Geld fast zeitgleich als Rente wieder ausgehändigt. Dieses System weist, trotz aller beschönigenden Rhetorik vom Generationenvertrag, einen grundlegenden Webfehler auf, der letztlich auf ein unzutreffendes Menschenbild zurückgeht. Kurz, das Umlageverfahren versucht, die für das menschliche Verhalten und seine Antriebskräfte ganz entscheidende nachvollziehbare Verbindung zwischen Leistung und Vergütung, zwischen persönlicher Verantwortung und daraus abgeleitetem individuellen Anspruch aufzuheben. An dessen Stelle treten anonyme Zahler und anonyme Empfänger in stets wechselnder Relation und mit gar nicht voraussehbaren, von der Politik immer wieder neu festgelegten Belastungen und Berechnungen. Wird eine solche Situation zum Dauerzustand, kann sie trotz ununterbrochener Reparaturen letztlich nur im Zusammenbruch des darauf gebauten Systems enden.

Der Weg dorthin wird durch zwei äußere Faktoren noch beschleunigt – durch den weltweiten demographischen Trend zu sinkenden Geburtenziffern und durch den medizinischen Fortschritt, der das Leben erfreulicherweise immer mehr verlängert. Beides läuft darauf hinaus, daß ein immer kleiner werdender Anteil von beschäftigten Beitragszahlern eine immer größer werdende Schar von Rentenempfängern zu ernähren und zu versorgen hat. Da aber der weiteren Anhebung des Rentenalters sowie einer Erhöhung der Sozialabgaben natürliche Grenzen gesetzt sind, ist es unausweichlich, daß die versprochenen Leistungen gekürzt werden müssen.

Ob diese Kürzungen nun, wie etwa in vielen Entwicklungsländern, schleichend über die Inflation daherkommen oder ob sie, als offenes Bankrottindiz vom Gesetzgeber, sprich von der Politik, angeordnet werden, das Ergebnis ist für den Pensionär von heute und von morgen das gleiche: Er muß seinen Ruhestand in materieller Unsicherheit verleben, weil die ihm vom System und den Politikern versprochene "soziale Sicherheit" sich als trügerisch erweist.

Als diese Entwicklung sich immer deutlicher abzeichnete, beschloß die chilenische Regierung im Jahr 1980 den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie setzte an die Stelle der staatlichen Rentenversicherung eine revolutionäre Neuerung: ein nationales, im wesentlichen privatwirtschaftlich organisiertes System von Rentensparkonten.

Heute, 16 Jahre danach, sprechen die Ergebnisse für sich. Die Leistungen des neuen, privaten Systems liegen jetzt bereits zwischen 50 bis 100 Prozent höher als die nach dem früheren Umlagesystem gezahlten Renten, je nachdem, ob es sich um Alters-, Erwerbsunfähigkeits- oder Hinterbliebenenrenten handelt. Das von der privaten Rentenversicherung verwaltete Vermögen beläuft sich auf 25 Milliarden Dollar, das entspricht etwa 40 Prozent des chilenischen Bruttosozialprodukts von 1995. Die Privatisierung der Rentenversicherung hat sowohl den Kapital- als auch den Arbeitsmarkt funktionstüchtiger gemacht und ist damit maßgeblich daran beteiligt, daß die Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft von ihrem historischen Wert von 3 Prozent pro Jahr nunmehr im Durchschnitt der letzten 12 Jahre auf 6,5 Prozent gesteigert werden konnte. Auch ist es eine Tatsache, daß die Sparquote seit dem Inkrafttreten dieser Reform auf 27 Prozent des Bruttosozialprodukts angewachsen ist, während die Arbeitslosenquote mittlerweile nur noch 5 Prozent beträgt.

Noch wichtiger als diese aussagekräftigen Zahlen aber ist die Tatsache, daß die Renten nun nicht mehr Angelegenheit und Spielball der Politik sind. Mit dieser Entpolitisierung hat der einzelne die Möglichkeit erhalten, sein eigenes Leben auch im Hinblick auf seine Altersvorsorge mündiger zu gestalten. Die Zukunft der Renten hängt nunmehr vom Verhalten des einzelnen und von der von ihm mitbeeinflußten Entwicklung der Märkte ab.

Drei andere Länder Lateinamerikas sind mittlerweile dem erfolgreichen Beispiel Chiles gefolgt. In Argentinien (1994), Peru (1993) und Kolumbien (1994) wurden ähnliche Reformen in Angriff genommen. In diesen nunmehr vier südamerikanischen Ländern verfügen inzwischen etwa 11 Millionen Arbeitnehmer über persönliche Konten für ihre Ruhestandsgelder.

Doch an den Erfahrungen Chiles sind auch andere Staaten in den verschiedensten Teilen der Welt interessiert. Selbst in den Vereinigten Staaten hat eine ernsthafte Debatte über das dortige, 60 Jahre alte Rentensystem eingesetzt. Dabei wäre zu bemerken, daß das soziale Sicherungssystem der USA weltweit das größte einheitliche Regierungsprogramm darstellt; seine Ausgaben belaufen sich jährlich auf über 350 Milliarden Dollar, mehr als der Verteidigungsetat der USA zu Zeiten des Kalten Krieges.

Wie groß die Macht der Ideen wirklich ist, läßt sich daraus ersehen, daß selbst Regierungsvertreter der Volksrepublik China nach Chile gereist sind, und das dortige private Pensionssystem zu studieren. Daraus ist vor zwei Jahren in Bezug auf Hongkong folgende aufschlußreiche Episode entstanden:

Der wichtigste Vertreter des kommunistischen China in Hongkong, Zhou-Han, fegte den Plan des damaligen britischen Gouverneurs, Patten, in der Kolonie ein Rentensystem nach dem Umlageverfahren einzuführen, mit der Bemerkung beiseite, es gehe nicht an, daß der Gouverneur als britischer Konservativer, die "kostspieligen Ideen des Euro-Sozialismus" nach Hongkong verpflanzen wolle.*)

Es ist durchaus möglich, daß noch weitere Länder, darunter auch die übrigen Staaten von Nord- und Südamerika, noch vor der Jahrtausendwende ihre vom Bankrott bedrohten staatlichen Rentensysteme im nachfolgend geschilderten Sinne umbauen. Damit würde der Staat dem einzelnen Bürger in beträchtlichem Umfang echte Gestaltungsmacht zurückübertragen. Dies wiederum würde mehr persönliche Freiheit, schnelleres Wirtschaftswachstum und, besonders im Alter, weniger Armut bedeuten.

 

Das chilenische System der Rentensparkonten

Im Rahmen des chilenischen Systems der Rentensparkonten hängt die tatsächliche Höhe des Pensionsanspruchs eines Arbeitnehmers davon ab, wieviel Geld er im Laufe seines Lebens angespart hat. Das funktioniert wie folgt: Weder der Arbeitnehmer noch sein Arbeitgeber zahlen, wie im alten System, Sozialabgaben an den Staat. Stattdessen zahlt der jeweilige Arbeitgeber monatlich zehn Prozent vom Lohn des Arbeitnehmers auf dessen eigenes Rentensparkonto ein, und das während der gesamten Lebensarbeitszeit. Diese Zehn-Prozent-Regelung gillt jedoch nur für die ersten 22.000 Dollar Jahreseinkommen.

Somit sinkt die "Pflichtsparquote" im Rahmen des Rentensystems in dem Umfang, in dem die Löhne mit der Wachstumsrate der Wirtschaft steigen.

Als freiwilligen Beitrag kann der Arbeitnehmer darüber hinaus monatlich weitere zehn Prozent seines Lohnes auf sein Rentensparkonto einzahlen, wobei auch diese Zahlungen steuerlich absetzbar sind. Normalerweise zahlt ein Arbeitnehmer nur dann mehr als die ursprünglichen, vom Arbeitgeber überwiesenen zehn Prozent seines Gehalts ein, wenn er entweder früher in den Ruhestand gehen oder einen höheren Pensionsanspruch erreichen möchte.

Der Arbeitnehmer kann wählen, welcher der auf dem Markt tätigen Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften (AFP = Administradoras de Fondos de Pensiones) er die Verwaltung seines Rentensparkontos anvertrauen möchte. Diese Finanzdienstleister unterliegen strenger staatlicher Aufsicht. Ihnen ist jede andere wirtschaftliche Tätigkeit untersagt und sie sind darüber hinaus gesetzlich verpflichtet, ausschließlich diversifizierte Wertpapiere mit geringem Risiko zu erwerben und Diebstahl oder Betrug auszuschließen. Die Aufsicht liegt bei einer eigens dafür geschaffenen staatliche Instanz, der hochqualifizierten "AFP-Aufsichtsbehörde". Der Zugang zum Rentenfonds-Markt unterliegt selbstverständlich keinerlei Beschränkungen.

Jede dieser Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften verwaltet praktisch einen Investmentfonds in Aktien und Obligationen. Die Investitionsentscheidungen fällt das Unternehmen selbst. In den amtlichen Vorschriften werden lediglich Grenzwerte für den maximal möglichen Anteil an bestimmten Wertpapieren sowie für die Zusammensetzung der Portefeuilles insgesamt festgelegt. Die Reform ist von ihrem Konzept her so angelegt, daß diese gesetzlichen Regelungen im Lauf der Zeit in dem Maße abgebaut werden, in dem die Erfahrung der Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften wächst. Es besteht keinerlei Verpflichtung dazu, Gelder in Schatzbriefe oder Regierungspapiere anderer Art zu investieren. Die Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaft und der von ihr verwaltete Investmentfonds sind rechtlich gesehen streng getrennt. Sollte also eine Verwaltungsgesellschaft einmal scheitern, so bleibt das Vermögen der Investmentfonds, d.h. das von den Arbeitnehmern investierte Geld, davon unberührt.

Dem Arbeitnehmer steht es frei, seine Verwaltungsgesellschaft zu wechseln. Schon aus diesem Grund konkurrieren die einzelnen auf diesem Markt tätigen Unternehmen untereinander darum, wer die höchste Rendite, den besten Kundendienst oder die niedrigsten Provisionsforderungen hat. Jeder Arbeitnehmer erhält für sein Rentenkonto ein Sparbuch – sein persönliches Rentensparbuch – und alle drei Monate informiert ihn der Kontoauszug darüber, wieviel Geld er auf seinem Konto angespart und was sein Investmentfonds damit erwirtschaftet hat. Das Konto wird unter dem Namen des Arbeitnehmers geführt; es ist sein persönliches Eigentum und wird zur Zahlung seiner Altersrente verwendet, wobei auch für seine Hinterbliebenen Vorsorge getroffen ist.

Natürlich gehen die Vorstellungen der Menschen darüber auseinander, wie sie ihr Leben im Alter gestalten wollen. Die einen möchten möglichst immerfort arbeiten, andere wiederum können es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu treten, um sich ganz ihrer wahren Berufung oder ihrem Hobby widmen zu können. Im alten Umlagesystem war es nicht möglich, solchen persönlichen Präferenzen nachzugeben. Alle wurden über einen Leisten geschlagen. Höchstens über einflußreiche politische Interessengruppen und durch kollektiven Druck hätte z.B. das Rentenalter pauschal gesenkt werden können. Der einzelne mit seinen ganz persönlichen Vorstellungen zählte dabei nicht.

Demgegenüber bietet das System der Rentensparkonten dem einzelnen die Möglichkeit, seine Vorstellungen vom Leben im Alter und der dazu notwendigen materiellen Basis ganz individuell und konkret zu verfolgen. In den Filialen vieler Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften stehen heute benutzerfreundliche Computer-Terminals, mit denen der Arbeitnehmer aus dem derzeitigen Kontostand und dem gewünschten Rentenalter seinen zukünftigen Rentenanspruch berechnen kann. Er kann aber auch angeben, wie hoch die Rente ist, die er erwartet, und dann dem Computer die Frage stellen, wieviel er jeden Monat einzahlen muß, wenn er mit einem bestimmten Alter in den Ruhestand gehen möchte. Sobald er eine Antwort erhalten hat, bittet er einfach seinen Arbeitgeber, von seinem Gehalt den entsprechenden Prozentsatz abzuziehen und einzuzahlen. Selbstverständlich kann er auch im Lauf der Zeit die Höhe seiner Zahlung neu bestimmen, je nachdem, welchen Ertrag sein Investmentfonds erwirtschaftet. Jedenfalls kann ein Arbeitnehmer selbst bestimmen, wieviel Rente er erhalten und wann er in den Ruhestand treten möchte. Das kommt einem maßgeschneiderten Anzug gleich.

Wie schon ausgeführt, sind die Beitragszahlungen der Arbeitnehmer steuerlich absetzbar, die Erträge der Rentensparkonten steuerfrei. Tritt der Arbeitnehmer in den Ruhestand, muß er freilich die Beträge, die er abhebt, nach den jeweiligen Regeln ordnungsgemäß versteuern. Das chilenische System der Rentensparkonten gilt gleichermaßen für private Arbeitnehmer wie für öffentliche Bedienstete. Ausgeschlossen sind lediglich Angehörige der Polizei und der Streitkräfte, deren Altersversorgung, wie in anderen Ländern auch, in das staatliche System von Lohnzahlungen und Arbeitsbedingungen integriert ist. (Meiner Meinung nach – die sich aber noch nicht durchgesetzt hat – wäre auch hier das System der Rentensparkonten vorteilhafter.) Für alle anderen lohnabhängigen Arbeitnehmer ist die Einrichtung und Führung eines Rentensparkontos also Pflicht. Auch Selbständige können, wenn sie es wollen, dem System beitreten. Auf diese Weise dürfte für manchen Arbeitnehmer aus dem informellen Sektor ein Anreiz zum Überwechseln in den formellen Sektor der Wirtschaft geschaffen werden.

Ein Arbeitnehmer, der vor seiner Pensionierung mindestens 20 Jahre lang regelmäßig Beiträge gezahlt hat und dessen Ansprüche dennoch unter der staatlich festgelegten Mindestrente liegen, erhält diese Mindestrente vom Staat dann, wenn sein Rentensparkonto erschöpft ist. Daraus wird erkennbar: Niemand im Land wird von vornherein als "arm" eingestuft und damit bereits dauerhaft stigmatisiert und dementsprechend für das Arbeitsleben entmutigt. Erst nach Ende seines Arbeitslebens, und erst nachdem das Rentensparkonto ausgeschöpft ist, erhält ein "armer" Rentner staatliche Unterstützung. (Pensionäre, die weniger als 20 Jahre lang Beiträge entrichtet haben, können eine Art Sozialrente beantragen, deren Niveau allerdings deutlich niedriger liegt.)

Mit eingeschlossen in das System der Rentensparkonten sind eine Erwerbsunfähigkeits- und eine Lebensversicherung. Um diese Dienstleistung anbieten zu können, schließt jede Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaft mit einer privaten Lebensversicherungsfirma eine entsprechende Gruppenversicherung für ihre Klienten ab. Zur Deckung der Versicherungsbeiträge zahlt der Arbeitnehmer zusätzlich etwa 2,9 Prozent seines Lohnes, wodurch gleichzeitig auch die Provision der Verwaltungsgesellschaft mit abgedeckt wird.

Die gesetzliche Mindestansparquote von 10 Prozent gründet auf der Annahme, daß im Laufe eines Arbeitslebens durchschnittlich ein Nettoertrag von 4 Prozent erwirtschaftet wird. Damit verfügt der durchschnittliche Arbeitnehmer auf seinem Rentensparkonto über ausreichend Geld, um die Zahlung einer Rente von 70 Prozent seines letzten Monatslohns sicherzustellen.

Das sogenannte gesetzliche Rentenalter beträgt 65 Jahre für Männer und 60 für Frauen. Bei der Privatisierung brauchte es über diese – im Rahmen des Umlagesystems traditionellen – Altersgrenzen keine Diskussion zu geben, da sie nicht zu den strukturellen Eigenheiten des neuen Systems gehören. Denn im Rahmen des neuen Systems bedeutet "Ruhestand" etwas ganz anderes als im staatlich dominierten Umlageverfahren. Zunächst einmal kann ein Arbeitnehmer auch nach dem Erreichen des Rentenalters weiterarbeiten. Tut er das, so erhält er eine Rente in der Höhe, die dem eingezahlten Kapital entspricht. Zu weiteren Beitragszahlungen ist er jedoch nicht mehr verpflichtet. Will ein Arbeitnehmer andererseits eher in den Ruhestand gehen und hat er genügend Geld für eine "angemessene" Rente angespart – das heißt für eine Rente, die 50 Prozent des Durchschnittsgehalts der letzten 10 Jahre entsprechen und auf jeden Fall über der "Mindestrente" liegen muß – so kann er das nach seinem Belieben jederzeit tun.

Die Altersgrenze von 65 bzw. 60 Jahren ist somit keineswegs starr im System oder von politischer Seite festgelegt. Stattdessen ist es einfach so, daß ein Arbeitnehmer so lange 10 Prozent seines Lohns auf sein Rentensparkonto einzahlen muß, bis er diese Altersgrenze erreicht hat, es sei denn, er entscheidet sich für die Frührente. Hat er die Altersgrenze aber erreicht, dann kann er fortan seine monatliche Rente abheben, muß sich aber keineswegs aus dem Arbeitsleben zurückziehen. Andererseits muß jeder Arbeitnehmer die genannte Altersgrenze erreicht haben, um Anspruch auf die staatliche Unterstützung erheben zu können, die ihm eine Mindestrente sichert.

Niemand ist jedoch verpflichtet, von einem bestimmten Alter an seine Erwerbstätigkeit einzustellen, wie es umgekehrt – sobald eine "vernünftige" Rente entsprechend der obigen Beschreibung gesichert ist – keinerlei Verpflichtung gibt, weiter tätig zu bleiben und für die Rente zu sparen.

Wenn ein Arbeitnehmer in Rente geht, kann er für gewöhnlich unter zwei Auszahlungsvarianten wählen. Zum einen kann er mit seinem Sparkapital bei einer beliebigen Lebensversicherungsgesellschaft eine Rentenversicherung abschließen. Damit ist ihm ein an die Inflationsrate gebundenes regelmäßiges Einkommen auf Lebenszeit garantiert.

Der chilenische Kapitalmarkt bietet Indexanleihen an, die den Gesellschaften entsprechende Investitionen ermöglichen. Auch eine Hinterbliebenenrente für die Angehörigen ist vorgesehen. Zum anderen kann der Rentenempfänger sein Kapital auf dem Sparkonto belassen und regelmäßig Abhebungen vornehmen, für die aufgrund der Lebenserwartung des Rentenempfängers und der Zahl seiner Angehörigen bestimmte Grenzen gelten. Falls der Kontoinhaber stirbt, wird das auf dem Konto verbleibende Kapital der Erbmasse zugeschlagen. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit, das gesamte Kapital, das nicht für den Erwerb einer Rentenversicherung bzw. zur Zahlung von Renten in Höhe von 70 Prozent des letzten Monatseinkommens erforderlich ist, in einem Betrag abzuheben.

Damit bietet das System der Rentensparkonten eine praktikable Lösung für eines der schwierigsten Probleme umlagefinanzierter Systeme – die demographische Falle. In den Umlagesystemen kommen auf den einzelnen im Berufsleben stehenden Beitragszahler immer höhere Belastungen zu, wenn die Bevölkerung überaltert und der Anteil der Beitragszahler entsprechend abnimmt. Im System der Rentensparkonten stellt sich dieses Problem immer schwerer zu deckender Pensionsverpflichtungen samt dem darin angelegten potentiellen Generationenkonflikt überhaupt nicht.

Auch die mit manchen Rentensystemen auf betrieblicher Basis verbundenen Probleme stellen sich nicht. Bei diesen Systemen werden im allgemeinen denjenigen Arbeitnehmern zusätzliche Kosten auferlegt, die vor Ablauf einer bestimmten Frist den Betrieb verlassen. Doch gehen solche Rentenfonds gelegentlich bankrott, wodurch die Arbeiter sowohl ihre Stelle als auch ihren Rentenanspruch verlieren. Demgegenüber ist das System der Rentensparkonten völlig unabhängig von dem Unternehmen, bei dem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist. Weil das System ganz auf den Arbeitnehmer und nicht auf das Unternehmen bezogen ist, kann der Arbeitnehmer sein Konto sozusagen mitnehmen. Auch kann – da das Fondskapital in börsengängigen Wertpapieren investiert werden muß – ein Rentensparkonto von Tag zu Tag neu bewertet und deswegen auch leicht von einer Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaft zur anderen transferiert werden.

Somit wird auch das Problem der starren Bindung an den Arbeitsplatz vermieden. Da das neue System die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb wie außerhalb des Landes nicht beeinträchtigt, wird einerseits mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt geschaffen, andererseits werden Einwanderer weder besonders gefördert noch besonders benachteiligt.

Zur Flexibilität gehört auch, daß immer mehr Menschen sich dafür entscheiden, jeden Tag nur ein paar Stunden zu arbeiten oder aber zeitweise ganz aus dem Arbeitsleben auszuscheiden: letzteres gilt vor allem für Frauen und junge Menschen. Beim Umlageverfahren können dadurch das System in Bedrängnis bringende weitere Beitragslücken entstehen, die zu stopfen immer wieder zum Politikum werden kann. Beim System des Rentenkonto-Sparens hingegen stellen unregelmäßige Beiträge überhaupt kein Problem dar.

 

Der Übergang

Soll in einem Land, das bislang dem Umlageverfahren anhängt, das ganz anders konzipierte System der Rentensparkonten eingeführt werden, stellen sich natürlich Übergangsprobleme, deren Lösung die komplexen Gegebenheiten im jeweiligen Land zu berücksichtigen hat.

In Chile haben wir für die Übergangszeit drei Grundregeln festgelegt:

1. Die Regierung garantiert all denjenigen, die bereits eine Rente nach dem deutschen System beziehen, daß die Höhe ihrer Pensionen durch die Reform nicht beeinflußt wird. Dies ist besonders deswegen wichtig, weil die staatliche Sozialversicherung, wie oben beschrieben, natürlich von denjenigen Arbeitnehmern, die in das neue System überwechseln, keine Beiträge mehr erhält. Damit ist sie aber auch nicht mehr in der Lage, aus eigenen Mitteln weiterhin Renten auszuzahlen. Andererseits kann den Senioren in diesem Lebensabschnitt eine Änderung ihrer Bezüge oder Anwartschaften nicht zugemutet werden.

2. Jedem Arbeitnehmer, der nach dem Umlageverfahren bereits Beträge entrichtet, steht die Wahl offen, entweder im alten System zu verbleiben oder aber in das neue System überzuwechseln. Wer das alte System verläßt, erhält als "Anerkennung" eine Obligation, die seinem neuen Rentensparkonto gutgeschrieben wird. Es handelt sich hier um ein Indexanleihe mit einem Realzinssatz von 4 Prozent. Diese Obligationen werden von der Regierung erst nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters ausbezahlt. Sie können an Sekundärmärkten gehandelt werden, um einen vorgezogenen Ruhestand zu ermöglichen. Der Wert der Anleihe entspricht der Höhe der Anwartschaften, die der Arbeitnehmer durch seine Beitragszahlungen im Umlageverfahren bereits erworben hat. Ein Arbeitnehmer, der bereits jahrelang Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt hat, steht also bei seinem Eintritt in das neue System nicht mit leeren Händen da.

3. Wer neu auf den Arbeitsmarkt kommt, ist grundsätzlich zum Eintritt in das neue System verpflichtet. Der Zugang zum Umlageverfahren ist ihm oder ihr aufgrund der Unhaltbarkeit dieses Systems versperrt. Damit ist sichergestellt, daß das alte System zu dem Zeitpunkt vollständig erlischt, zu dem der letzte noch darin verbleibende Arbeitnehmer das Rentenalter erreicht. Von diesem Zeitpunkt an ist die Regierung lediglich noch für eine begrenzte Zeit verpflichtet, an die Pensionäre des alten Systems Rente zu zahlen.

Gerade die Festlegung auf dieses vorausberechenbare Ende des alten Umlagesystems ist von entscheidender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, denn nur dadurch werden die politischen Zugriffsmöglichkeiten auf diesen Teil des persönlichen Lebens der Bürger verläßlich eingeschränkt. Würde das Umlageverfahren lediglich reduziert und nicht ein für allemal abgeschlossen, bliebe es bei der latenten staatlichen Bevormundung und den Möglichkeiten politischen Zugriffs.

Nach einer mehrmonatigen Debatte über die geplanten Reformen wurde das Rentenreformgesetz am 4. November 1980 gebilligt. Zuvor war es der Bevölkerung im Rahmen eines Kommunikations- und Bildungsprogramms im einzelnen erläutert worden.*)

Um allen interessierten Finanzdienstleistern gleiche Chancen bei der Gründung einer Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaft zu sichern, sah das Gesetz eine sechsmonatige Sperrfrist vor, während der den Unternehmen jede Tätigkeit und auch jede Werbung untersagt war. Dieser Sektor steht also insofern einzigartig da, als sowohl seine Konzeption am 4. November 1980 als auch seine Einrichtung am 1. Mai 1981 jeweils einem ganz bestimmten Datum zuzuordnen sind.

Wie in vielen anderen Ländern ist der 1. Mai auch in Chile der Tag der Arbeit. Das Datum war also keineswegs zufällig gewählt. Symbole sind wichtig, und so gibt auch dieser Feiertag den Arbeitnehmern die Gelegenheit, den 1. Mai nicht nur als Tag des Klassenkampfes, sondern auch als den Tag zu feiern, an dem ihnen die Freiheit gegeben wurde, über ihr Rentensystem selbst zu bestimmen und sich so von "den Ketten" der vom Staat betriebenen und bestimmten Sozialversicherung zu befreien.

Aber zusätzlich zu den Arbeitnehmern profitieren auch die Arbeitgeber und damit letztlich der Arbeitsmarkt von der Einrichtung des neuen Systems. Denn im Rahmen einer Neufestlegung wurde der Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung alter Art größtenteils den Bruttolöhnen zugeschlagen. Zwar wurde der verbleibende Rest des früheren Arbeitgeberbeitrags in Form einer befristeten Arbeitsmarktabgabe zur Finanzierung der Übergangsphase verwendet. Doch nach der im Rentenreformgesetz vorgesehenen vollständigen Abschaffung dieser Abgabe verringern sich für den Arbeitgeber die Kosten für die Einstellung eines Arbeitnehmers. Die Beiträge der Arbeitnehmer werden von dem dergestalt erhöhten Bruttolohn einbehalten. Da nach dem neuen System ein insgesamt niedrigerer Beitrag erhoben wurde, stiegen die Nettolöhne derjenigen, die sich dem neuen System angeschlossen hatten, um etwa 5 Prozent an.

Damit konnten wir auch die täuschende Vorstellung aus der Welt schaffen, die Sozialversicherung werde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam getragen – ein Trick, der es immer wieder ermöglichte, die Beitragssätze aus politischen Motiven zu manipulieren. Denn wirtschaftlich betrachtet trägt der Arbeitnehmer fast die gesamte Last der Sozialabgaben, weil das Arbeitsangebot insgesamt äußerst unelastisch ist. Auch werden sämtliche Beiträge letztendlich aus der Grenzproduktivität der Arbeitnehmer bezahlt. Denn dem Arbeitgeber bleibt gar nichts anderes übrig, als seinen Beschäftigungsentscheidungen sowohl die Lohnkosten wie auch die Lohnnebenkosten in Form von Sozialversicherungsbeiträgen zugrunde zu legen. Durch die Umbenennung der einstigen "Arbeitgeber"-beiträge stellt das System ganz klar heraus, daß sämtliche Beiträge von den Arbeitnehmern stammen. In einem solchen Szenario wird das Lohnniveau letztendlich vom unbestechlichen Zusammenspiel der Marktkräfte und nicht von politischen Motiven bestimmt.

Natürlich wirft die Finanzierung des Übergangs eine Reihe komplexer Problem auf, die von Land zu Land auf unterschiedliche Weise gelöst werden müssen. Die aus dem Umlageverfahren resultierende Verschuldung des chilenischen Systems ist von der Weltbank auf etwa 80 Prozent des Bruttosozialprodukts von 1980 geschätzt worden.*) Dabei hat sich das Niveau dieser Verschuldung noch aufgrund einer Reform des alten Systems im Jahre 1978 verringert, in deren Rahmen das Indexierungsverfahren rationalisiert, das System der Sonderregelungen abgeschafft und das Rentenalter angehoben wurde.

In der gleichen Studie bezeichnet die Weltbank Chile als "Beweis dafür, daß ein Land mit einem einigermaßen konkurrenzfähigen Bankwesen, einem gut funktionierenden Kapitalmarkt und einem gewissen Grad an makroökonomischer Stabilität auch beträchtliche übergangsbedingte Defizite ohne große Auswirkungen auf die Zinsen finanzieren kann."

In Chile wurden zur kurzfristigen Finanzierung des Übergangs auf das System der Rentensparkonten folgende fünf Verfahren angewendet:

1. In der Bilanz des Staates, in der eigentlich jede Regierung ihre Aktiva und Passiva nachweisen sollte, wurden die aus dem staatlichen Rentensystem erwachsenden Verpflichtungen zum Teil durch den Wert der Staatsbetriebe und anderer Vermögenswerte ausgeglichen. Aus diesem Grund stellt die Privatisierung nicht nur ein Verfahren zur Finanzierung des Übergangs dar, sie ist auch in anderer Hinsicht vorteilhaft: die Effizienz wird gesteigert, die Vermögensbildung angeregt und die Wirtschaft entpolitisiert.

2. Da in einem Kapitaldeckungssystem die zur Finanzierung angemessener Renten erforderlichen Beitragssätze niedriger sind als in einem System der Sozialabgaben, konnte ein Bruchteil der Differenz als zeitlich begrenzte Übergangsabgabe verwendet werden, ohne die Nettolöhne zu schmälern oder die Lohnkosten für den Arbeitgeber zu steigern.

3. Durch Neuverschuldung können die Kosten des Übergangs auf zukünftige Generationen verteilt werden. In Chile wurden etwa 40 Prozent der Kosten über Regierungsschuldverschreibungen zu marktgerechten Zinssätzen finanziert. Zum großen Teil wurden diese Obligationen von den Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften für ihre Investitions-Portefeuilles aufgekauft. Diese "Überbrückungsverschuldung" wird wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt vollständig getilgt sein, zu dem uns der letzte Pensionär des alten Systems verläßt.

4. Der Zwang, den Übergang finanzieren zu müssen, bietet einen kräftigen Anreiz zur Beschneidung verschwenderischer Staatsausgaben – ein Argument, das bereits seit Jahren mit Erfolg verwendet wird, um ungerechtfertigte neue Ausgabenwünsche abzuwürgen.

5. Die durch das neue System geförderte Steigerung des Wirtschaftswachstums hat das Steueraufkommen allgemein und die Mehrwertsteuereinnahmen im besonderen wesentlich erhöht. Nur 15 Jahre nach der Rentenreform erwirtschaftete Chile bereits Etatüberschüsse.

 

Die Ergebnisse

Die Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften haben bereits einen Investmentfonds im Wert von 25 Milliarden Dollar akkumuliert. Für ein Entwicklungsland mit einer Bevölkerung von 14 Millionen und einem Bruttosozialprodukt von 60 Milliarden Dollar ist das eine ungewöhnlich hohe Agglomeration von intern erwirtschaftetem Kapital.

Mit diesem langfristig verfügbaren Investmentkapital wurde nicht nur das Wachstum der Wirtschaft mitfinanziert. Angeregt wurde auch die Entwicklung effizienter Finanzmärkte und Finanzinstitutionen. Die Entscheidung, zunächst das Rentenkontosparen einzurichten und erst danach die großen staatlichen Unternehmen zu privatisieren, hat zu einer Abfolge glücklicher Umstände geführt. Auch die Arbeitnehmer konnten aus dem hohen Produktivitätszuwachs der privatisierten Unternehmen einen hübschen Gewinn ziehen, denn durch die höheren Aktienkurse wuchs auch der Ertrag ihrer Rentensparkonten. Damit sicherten sie sich einen großen Anteil an dem Wohlstand, der durch den Privatisierungsprozeß geschaffen worden war.

Es gibt etwa 15 Rentenfonds-Verwaltungsgesellschaften, die eine recht heterogene Gruppe darstellen. Einige gehören Versicherungs- oder Bankkonzernen, während andere sich im Eigentum der Arbeitnehmer befinden oder aber an Gewerkschaften beziehungsweise Industrie- und Gewerbeverbände gebunden sind. An einigen sind auch internationale Finanzfirmen wie AIG, Aetna und Banco de Santander beteiligt. Einige der größeren Pensionsfonds-Verwalter werden ihrerseits an der chilenischen Börse gehandelt, und eine dieser Firmen hat kürzlich sogar an der Wall Street Zertifikate über die Hinterlegung ausländischer Aktien ausgegeben, unterstützt von der kurz zuvor erfolgten Einstufung der chilenischen Regierungsanleihen in die Kategorie A-.

Das neue System hat insgesamt ganz wesentlich zur Steigerung der Kapitalproduktivität und damit auch zur Steigerung der Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft beigetragen. Durch das System der Rentensparkonten wurde der Kapitalmarkt effizienter gestaltet und in seinem Wachstum während der letzten 15 Jahre beeinflußt. Die riesigen Summen, die von den Pensionsfonds-Verwaltern betreut werden, haben zur Schaffung neuer Finanzinstrumente wie auch zur Weiterentwicklung bereits existierender, aber noch unterentwickelter Instrumente geführt. Weitere Beiträge der chilenischen Rentenreform zur Stabilität und Transparenz des Kapitalmarkts bestehen in der Schaffung eines eigenen Risikobewertungswesens und in der Verbesserung des Führungsstils in einzelnen Unternehmen. Die Pensionsfonds-Verwaltungsgesellschaften haben Aufsichtsmandate in den Unternehmen, an denen sie Anteile besitzen, was der häufig anzutreffenden Selbstzufriedenheit mancher Vorstände deutliche Schranken weist. Seit dem Beginn des Systems am 1. Mai 1981 beläuft sich die durchschnittliche reale Kapitalrendite auf etwa 13 Prozent jährlich. Das ist mehr als das Dreifache des ursprünglich angenommenen Ertrags von 4 Prozent. Natürlich weisen die jährlichen Erträge Schwankungen zwischen minus 3 Prozent und plus 30 Prozent real auf, wie sie für den freien Markt typisch sind; die wichtigste Ertragszahl bleibt jedoch der langfristige Durchschnittswert.

Im Vergleich mit den Leistungen des alten staatlichen Systems, das auf der Beitragsseite insgesamt etwa 25 Prozent an Sozialbeiträgen erforderte, sind die Rentenzahlungen nach dem neuen System beträchtlich gestiegen. Nach einer Studie von Sergio Baeza*) erhält der durchschnittliche Rentner des neuen Systems eine Pension im Wert von 78 Prozent seines Durchschnittseinkommens aus den letzten 10 Jahren seines Arbeitslebens. Wie schon ausgeführt, können Arbeitnehmer, die in Rente gehen, ihre "Sparüberschüsse", die den Grenzwert von 70 Prozent ihres Gehalts überschreiten, auf einmal abheben. Würde man diese Summen in die Berechnung der Rentenwerte miteinbeziehen, so beliefe sich der Gesamtwert auf fast 84 Prozent des Arbeitseinkommens. Auch die Invalidenrenten erreichen im Durchschnitt rund 70 Prozent des Arbeitseinkommens.

Das neue System hat damit einen bedeutenden Beitrag zur Eindämmung der Armut geleistet. Denn einerseits haben sich Wert und Sicherheit der Alters-, Hinterbliebenen- und Erwerbsunfähigkeitsrenten erhöht, andererseits wurden Wirtschaftswachstum und Beschäftigung auf indirekte Weise kräftig gefördert.

Schließlich hat das neue System auch den Ungerechtigkeiten des alten Verfahrens ein Ende gesetzt. Zwar wird nach allgemeiner Ansicht im Umlageverfahren bei der Rentenversicherung das Einkommen von den Reichen auf die Armen verteilt. Untersuchungen lassen jedoch erkennen, daß dies keineswegs so ist. Häufig genug verteilen Umlageverfahren in einer Weise um, daß die Wohlhabenden und besonders die einflußreichsten Gruppen unter den Arbeitnehmern den meisten Vorteil daraus ziehen.*)

 

Schluß

Es ist nach alledem nicht überraschend, daß sich das System der Rentensparkonten in Chile als höchst populär erwiesen und die soziale und wirtschaftliche Stabilität des Landes gestärkt hat. Die Arbeitnehmer schätzen die Durchschaubarkeit des Systems und haben dank ihrer Rentensparkonten inzwischen ein direktes Interesse an der Wirtschaft entwickelt. Da die privaten Rentenfonds ganz beträchtliche Anteile an den großen Unternehmen in Chile halten, investieren die Arbeitnehmer auf diese Weise ihr Kapital zugleich in die Zukunft des Landes.

Als das neue System 1981 in Chile eingeführt wurde, stellte man es den Arbeitnehmern frei, im alten System zu bleiben oder dem neuen beizutreten. Eine halbe Million chilenischer Arbeitnehmer, ein Viertel aller Antragsberechtigten, entschied sich daraufhin für das neue System und trat ihm bereits im ersten Monat bei – weit mehr als die ursprünglich erwarteten 50 000 Arbeitnehmer. Bis heute haben sich mehr als 90 Prozent der chilenischen Arbeitnehmer, die früher dem alten System angehörten, für das neue entschieden. Im Jahr 1995 verfügten 5 Millionen Chilenen über Rentensparkonten, wobei allerdings nicht alle diese Konten aktiven Vollzeitbeschäftigten gehörten, so daß folglich auch nicht auf alle Konten Monat für Monat Beiträge eingezahlt wurden.

Letztendlich entscheidend und in die Zukunft weisend ist die Erkenntnis: Wenn man den Arbeitnehmern in der Frage der Geldanlage für ihre Alterssicherung die Wahl läßt, dann entscheidet sich die große Mehrheit von ihnen für den Markt – selbst dann, wenn es sich um so einen zentralen Gegenstand wie die soziale Sicherheit handelt.

In dem Maße, in dem das staatliche Rentensystem damit abgebaut wird, verlieren Politiker und Verbandsvertreter ihre Entscheidungsbefugnisse darüber, ob, inwieweit und für welche Zielgruppen die Renten angehoben werden sollen oder nicht. Damit sind die Renten auch nicht mehr, wie früher, Gegenstand politischer Konflikte und demagogischer Wahlreden. Die Höhe der Rente eines jeden einzelnen hängt statt dessen einfach von seiner eigenen Leistung und von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt ab, nicht aber von der Regierung oder dem Druck von Interessengruppen.

Für die Chilenen verkörpert ihr Rentensparkonto ganz reale und greifbare Eigentumsrechte – es bildet die Grundlage für ihre Sicherheit im Ruhestand. Nach 16 Jahren Erfahrung mit dem neuen System ist der wichtigste Besitz des durchschnittlichen chilenischen Arbeitnehmers nicht mehr sein Gebrauchtwagen oder sein kleines Haus, auf dem vermutlich eine Hypothek lastet, sondern das auf seinem Rentenkonto angesparte Kapital.

Schließlich hat das private Rentenwesen auch tiefgreifende politische und kulturelle Auswirkungen. Die überwiegende Mehrheit der chilenischen Arbeitnehmer, die sich für das neue System entschieden haben, hat diese Entscheidung schneller vollzogen als die Deutschen nach dem Fall der Mauer ihre gedankliche Umstellung von einem System aufs andere. Die chilenischen Arbeitnehmer faßten den freien Entschluß, aus dem alten System auszutreten, obwohl einige nationale Gewerkschaftsführer und Mitglieder der alten politischen Klasse ihnen ausdrücklich davon abgeraten haben. Doch Angelegenheiten, die für ihr eigenes Leben von unmittelbarer Wichtigkeit sind, wie Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge, liegen den Arbeitnehmern entsprechend am Herzen. Deshalb fällen sie ihre Entscheidungen mit gesundem Menschenverstand und mit Rücksicht auf ihre Familien, nicht aber nach politischen Einflüsterungen oder gar Einschüchterungen.

Mit dem neuen Rentensystem hat jeder Chilene ganz persönlich teil an der Wirtschaft. Deshalb steht ein normaler chilenischer Arbeiter heute dem Auf und Ab der Börsenkurse und der Zinsen nicht mehr desinteressiert gegenüber. Er weiß, daß er Anteilseigner seines Landes ist und zeigt deshalb eine viel stärkere Hinwendung zum Marktgeschehen und zu den Vorzügen einer freien Gesellschaft.

Dies war die kurze Geschichte eines Traums, der Wirklichkeit geworden ist. Letztendlich können wir daraus lernen, daß auch in der heutigen Gesellschaft große, in die Zukunft weisende Veränderungen möglich sind, wenn dem einzelnen Menschen wieder genügend Vertrauen entgegengebracht und entsprechende Verantwortung eingeräumt wird.


 

 

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