Die erklärung des zusammenbruchs der Chilenischen demokratie

Santiago, den 22. August 1973

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BESCHLUSS:

In Erwägung:

1. Daß es eine wesentliche Bedingung für den Bestand eines Rechtsstaates ist, daß die öffentlichen Gewalten in voller Anerkennung des Prinzips der gegenseitigen Unabhängigkeit ihre Handlungen und ihre Befugnisse innerhalb des ihnen durch Verfassung und Gesetz vorgeschriebenen Rahmens ausüben, und daß alle Einwohner des Landes die grundsätzlichen, ihnen von der politischen Verfassung des Landes zugesicherten Garantien und Rechte genießen können;

2. Daß die Gesetzmäßigkeit des chilenischen Staates ein Erbe des Volkes ist, das im Laufe der Jahre die grundsätzliche Übereinstimmung für sein Zusammenleben in dieser Gesetzmäßigkeit geprägt hat und daß ein Verstoß gegen diese Gesetzmäßigkeit nicht nur bedeutet, das kulturelle und moralische Erbe unserer Nation zu zerstören, sondern praktisch jede Möglichkeit eines demokratischen Lebens ausschließt;

3. Daß diese Werte und Prinzipien in der politischen Verfassung des Staates ausgedrückt sind und laut Artikel Nr. 2 die Souveränität grundsätzlich in der Nation ruht und die Obrigkeit keine weiteren Vollmachten als die ihr von der Verfassung zugewiesenen besitzt und laut Artikel Nr. 3 gefolgert wird, daß eine Regierung, die sich Rechte anmaßt, die ihr vom Volk nicht eingeräumt wurden, Landesverrat verübt;

4. Daß der augenblickliche Präsident der Republik durch das Parlament in Plenum nach Annahme eines Statuts demokratischer Garantien gewählt wurde und daß dieses Statut der politischen Verfassung einverleibt wurde. Der präzise Zweck dieses Vorgehens war der, zu gewährleisten, daß die Handlungen seiner Regierung sich den Prinzipien und Richtlinien des Rechtsstaats unterwerfen. Der Präsident verpflichtete sich feierlich, dies zu respektieren;

5. Daß es eine Tatsache ist, daß die jetzige Regierung der Republik von Anfang an danach getrachtet hat, die Totalmacht mit der offenkundigen Absicht an sich zu reißen, alle Personen der strengsten wirtschaftlichen und politischen Kontrolle des Staates zu unterwerfen und auf diese Weise die Einsetzung eines totalitären Systems zu erzwingen, das in absolutem Gegensatz zum repräsentativen demokratischen und von der Verfassung festgesetzten System steht;

6. Daß die Regierung zur Durchsetzung ihres Vorsatzes nicht nur einzelne Verstöße gegen die Verfassung und das Gesetz begangen, sondern aus diesem Vorgehen eine ständige Verhaltensregel gemacht hat und sogar zum äußersten Extrem schritt, die Vollmachten der anderen Staatsgewalten zu übergehen und systematisch zu verletzen, wobei sie gewöhnlich gegen die Garantien verstieß, die die Verfassung allen Einwohnern der Republik zusichert. Sie ließ außerdem zu und unterstützte die Schaffung illegitimer paralleler Kräfte, die die Nation aufs schwerste gefährden, wodurch wesentliche Bestandteile der staatlichen Ordnung und des Rechtsstaates zerstört wurden;

7. Daß die Regierung bezüglich der Vollmachten des nationalen Parlaments, des Trägers der Legislative, folgende Rechtswidrigkeiten beging:

a) Sie entriß dem Parlament seine Hauptverantwortung, Gesetze zu erlassen, indem sie eine Reihe sehr wichtiger, für das wirtschaftliche und soziale Leben des Landes ausschlaggebender Maßnahmen traf, die unbestreitbar nur durch Gesetze hätten geregelt werden dürfen. Dies geschah durch einen Missbrauch der "decretos de insistencia"* oder durch einfache, auf "resquicios legales"** begründete Verwaltungsbeschlüsse. Hierzu muß gesagt werden, daß all dies mit der willkürlichen Absicht vollzogen wurde, im vollen Bewußtsein, damit die von der gültigen Gesetzgebung anerkannte Struktur des Landes zu verändern. All dies geschah einzig und allein zur Ausführung des Willens der Regierung, die sich damit über den Willen der Legislative absolut hinwegsetzte;

* Decreto de insistencia: Inkraftsetzung einer eigentlich von der Contraloria General de la Republica als verfassungswidrig zurückgewiesenen Gesetzesverordnung mit Unterschrift des Präsidenten und aller Minister.

(Anm.d.U.)
** Resquicios legales: Lücken in der Gesetzgebung, die rechtswidrig ausgenutzt oder missbraucht werden. (Anm.d.U.)

b) Sie umging andauernd die Prüfungsvollmacht des nationalen Parlaments, indem sie die ihm zustehende Befugnis, Staatsminister abzusetzen, wenn diese gegen die Verfassung oder das Gesetz verstoßen oder andere im Grundgesetz angeführten Verbrechen oder Missbrauch treiben, ganz einfach jeglicher Wirkung entblößte, und

c) Schließlich und als außerordentlich schweres Vergehen, setzte sie sich über die Verantwortlichkeit des Parlaments als Legislative hinweg, als sie sich weigerte, die unter strengster Befolgung der vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Richtlinien angenommene Verfassungsänderung über die drei Wirtschaftsbereiche*** zu verkünden; *** Drei Wirtschaftsbereiche: staatlich, gemischt und privat. (Anm.d.U.)

8. Dass sie mit Bezug auf die Judikative folgenden Missbrauch getrieben hat:

a) Mit der Absicht, die Autorität des Richterstandes zu untergraben und seine Unabhängigkeit zu brechen, hat sie eine erniedrigende Beleidigungs-und Verleumdungskampagne gegen den Ehrenwerten Höchsten Gerichtshof angestiftet und schwere zu Tatsachen herangereifte Anpöbeleien gegen die Personen und Vollmachten der Richter gebilligt;

b) Sie hat die Ausübung der Gerechtigkeit im Falle jener Verbrecher umgangen, die den Regierungsparteien oder -gruppen angehören oder ihr freundlich gesinnt sind, sei es durch Mißbrauch der Begnadigung oder durch absichtliche Nichtachtung von Haftbefehlen;

c) Sie hat gegen ausdrückliche Gesetze verstoßen und sich über das Gewaltenteilungsprinzip einfach hinweggesetzt, indem sie die ihren Absichten entgegengesetzten Urteilssprüche oder rechtlichen Beschlüsse der Justiz nicht in Kraft setzte. Wenn der Ehrenwerte Höchste Gerichtshof dies anzeigte, hat der Präsident der Republik sich unerhörterweise das vermeintliche Recht angemaßt, ein "juicio de méritos"**** einzuleiten und selbst zu bestimmen, ob und wann die Urteilssprüche in Kraft treten sollten; **** Juicio de meritos: Eine Art Disziplinarverfahren gegen Personen im öffentlichen Dienst mit politischer Bewertung administrativer oder juristischer Handlungen. (Anm.d.U.)

9. Daß in Hinblick auf die Contraloria General der Republik, eine essentiell wichtige und selbständige Einrichtung zur Überwachung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, die Regierung systematisch deren Gutachten und Einwände übertrat, obwohl dadurch das unrechtmäßige Handeln der Exekutive oder der von ihr abhängigen Einrichtungen angezeigt wurde;

10. Daß unter den ständigen Vergehen der Regierung gegen grundsätzliche, in der Verfassung festgelegte Garantien und Rechte folgende hervorzuheben sind:

a) Sie hat gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz verstoßen, und zwar durch parteiische und hasserfüllte Diskriminierungen in Bezug auf den Schutz, den die Obrigkeit den Personen, Rechten und Gütern aller Einwohner der Republik bei Ausübung ihrer Autorität schuldig ist. Dies gilt für mit der Ernährung und der allgemeinen Lebenshaltung zusammenhängende und viele andere Aspekte. Es muss jedoch besonders darauf hingewiesen werden, daß der Präsident der Republik selbst diese Diskriminierungen zum Grundsatz seiner Regierung gemacht hat, als er von Anfang an verkündete, nicht der Präsident aller Chilenen zu sein;

b) Sie hat schwere Rechtsverletzungen gegen die freie Meinungsäußerung begangen, indem sie alle Arten ökonomischer Druckmittel gegen die öffentlichen Mitteilungsmedien anwandte, die keine bedingungslosen Anhänger der Regierung sind; indem sie Zeitungen und Rundfunksender rechtswidrig schloss; indem sie den Rundfunksendern ungesetzliche "Einheitssendungen" aufzwang; indem sie Journalisten der Opposition verfassungswidrig einkerkerte; indem sie zu hinterlistigen Machenschaften griff, um das Monopol für Druckereipapier an sich zu bringen; indem sie offen gegen die gesetzlichen Vorschriften verstieß, an die sich der Nationale Fernsehkanal halten muß, als sie die oberste Leitung einem Funktionär übertrug, der nicht mit Zustimmung des Senates ernannt wurde, wie es im Gesetz vorgeschrieben ist, und indem er diesen Kanal zu einem Werkzeug der Parteipropaganda und der Verleumdung politischer Gegner machte;

c) Sie verletzte das Prinzip der Selbständigkeit der Universitäten und das ihnen von der Verfassung zugesprochene Recht, Fernsehstationen einzurichten und zu unterhalten, als mit ihrer Billigung der Kanal Nr. 9 der Universität Chile usurpiert wurde, als durch Gewalt und unrechtmäßige Verhaftungen gegen den neuen Kanal Nr. 6 dieser Universität vorgegangen wurde und schließlich als die Verbreitung des Kanals der Katholischen Universität Chiles auf die Provinzen verhindert wurde;

d) Sie hat das Versammlungsrecht der Regimegegner gestört, verhindert und manchmal sogar gewaltsam unterdrückt. Dagegen hat sie immer zugelassen, daß Gruppen, die oft bewaffnet waren, sich versammeln, ohne sich an die gesetzlichen Vorschriften zu halten, und sich Straßen und Lastwagen aneignen, um die Bevölkerung einzuschüchtern;

e) Sie hat die Erziehungsfreiheit verletzt, indem sie unrechtmäßig und heimtückisch durch die Gesetzesverordnung der sogenannten Erziehungsdemokratisierung einen Erziehungsplan einführte, dessen Ziel die marxistische Bewusstseinsbildung der Schüler ist;

f) Sie hat die verfassungsmäßige Garantie des Eigentumsrechts systematisch verletzt, indem sie über 1500 unrechtmäßige Besetzungen landwirtschaftlicher Guter zuließ und schützte und hunderte ebensolcher "Einnahmen" von Industrieanlagen und Geschäftsbetrieben förderte, um anschließend unrechtmäßig zu enteignen oder zu intervenieren. Auf diese Weise, durch tätliche Räuberei, erschuf sie einen staatlichen Wirtschaftsbereich. Dieses System ist eine der bestimmenden Ursachen des ungewöhnlichen Rückgangs der Produktion, des Versorgungsmangels, des Schwarzmarktes und der erstickenden Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Außerdem wurden die Staatskassen ausgeräumt und eine allgemeine Wirtschaftskrise herbeigeführt, die das Land bedrückt, den Mindestlebensstandard der Familien bedroht und die nationale Sicherheit schwer gefährdet;

g) Sie hat außer den schon genannten Verhaftungen der Journalisten häufige unrechtmäßige Verhaftungen aus politischen Gründen veranlasst und in vielen Fällen das Auspeitschen und die Folterung der Opfer gebilligt;

h) Sie hat die Rechte der Arbeiter und ihrer Gewerkschafts- oder Handwerkerorganisationen ignoriert, indem sie diese, wie im Falle der Bergarbeiter von El Teniente oder der Transportunternehmer, unrechtmäßig unterdrückte;

i) Sie hat eingegangene Verpflichtungen, die den ungerecht verfolgten Arbeitern Gerechtigkeit versprachen, nicht eingehalten, wie es zum Beispiel mit den Arbeitern von Sumar, Helvetia, der Zentralbank, El Teniente und Chuquicamata geschah; sie hat eine willkürliche Politik zwangsläufiger Verstaatlichung der Landgüter unter den Landarbeitern verfolgt, wodurch sie ausdrücklich gegen das Gesetz der Agrarreform verstieß; sie hat die wirkliche Teilhaberschaft der Arbeiter im Einklang mit der Verfassungsänderung, die ihnen dieses Recht eingeräumt hatte, verweigert; sie hat das Ende der Gewerkschaftsfreiheit mittels politischer Parallelorganisationen der Arbeiter herbeigeführt;

j) Sie hat schwer gegen die verfassungsmäßige Garantie verstoßen, die es jedem Staatsbürger freistellt, das Land zu verlassen und stellte Bedingungen dafür auf, die in keinem Gesetz vorgesehen sind;

11. Daß mit Macht versucht wird, den Rechtsstaat durch Schaffung und Erhaltung einer Reihe von der Regierung unterstützter und geförderter Organisationen zu zerstören. Diese Organisationen verüben Landesverrat, weil sie sich eine Autorität anmaßen, die ihnen weder die Verfassung noch die Gesetze einräumen; sie begehen ein deutliches Verbrechen an den laut Artikel 10 Nr.16 des Grundgesetzes festgelegten Vorschriften. Solche Einrichtungen sind zum Beispiel die Gemeindekommandos, die Landarbeiterräte, die Bewachungskommissionen, die JAP, usw. Sie sind alle dazu bestellt, die fälschlicherweise so genannte "Volksmacht" zu schaffen und damit die rechtmäßig bestehenden Gewalten zu ersetzen und eine Grundlage für die totalitäre Diktatur herzustellen. Diese Tatsachen wurden vom Präsidenten der Republik anlässlich seiner offiziellen Rechenschaftslegung und ebenfalls von allen Theoretikern und Massenmedien der Regierung öffentlich zugegeben;

12. Daß im Zusammenbruch des Rechtsstaates die Bildung und Entwicklung von unter dem Schutze der Regierung stehenden bewaffneten Banden besonders schwerwiegend ist, da sie nicht nur die Sicherheit der Personen und ihre Rechte, sondern auch den inneren Frieden der Nation gefährden; darüber hinaus sind sie dazu bestimmt, sich den legalen Streitkräften zu widersetzen. Außerdem ist es besonders schwerwiegend, daß die Carabineros daran gehindert werden, ihre außerordentlich wichtige Aufgaben bei verbrecherischen Tumulten zu erfüllen, die von gewalttätigen, der Regierung treu ergebenen Banden aufgezogen werden. Es darf wegen seiner ungeheuren Tragweite nicht verschwiegen werden, daß öffentliche und notorische Versuche unternommen werden, die Streitkräfte und das Polizeikorps für parteipolitische Zwecke auszunutzen, die Rangordnung ihrer Institutionen zu brechen und ihre Reihen politisch zu unterwandern;

13. Daß bei der Einsetzung des derzeitigen Kabinetts mit Beteiligung hoher Offiziere der Streitkräfte und der Carabineros Seine Exzellenz der Präsident der Republik dieses Kabinett als eines "der nationalen Sicherheit" bezeichnete und ihm als grundsätzliche Aufgabe zuwies, die "politische und wirtschaftliche Ordnung durchzusetzen". Dies ist nur denkbar auf Grund einer vollständigen Wiederherstellung und Inkraftsetzung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Richtlinien, die die institutionelle Ordnung der Republik bestimmen;

14. Daß die Streitkräfte und die Carabineros aus ihrer eigenen Natur heraus eine Garantie für alle Chilenen und nicht nur für einen Teil der Nation oder eine politische Verbindung sind und sein müssen. Folglich darf ihre Beteiligung an der Regierung nicht dazu ausgenutzt werden, eine bestimmte Partei und ihre Minderheitspolitik zu beschützen, sondern sie haben die Verpflichtung, notwendige Voraussetzungen zu schaffen, um die Herrschaft der Verfassung und der Gesetze und die notwendigen Bedingungen des demokratischen Zusammenlebens vollständig wiederherzustellen, so daß für Chile die Stabilität seiner staatlichen institutionellen Ordnung, der zivile Frieden, die Sicherheit und seine Weiterentwicklung gewährleistet werden;

15. Schließlich und endlich, in Ausübung der Befugnisse, die ihr laut Artikel 39 der politischen Verfassung des Staates zustehen, trifft

DIE ABGEORDNETENKAMMER FOLGENDEN BESCHLUSS:

Erstens:

Seiner Exzellenz dem Präsidenten der Republik und den Herren Ministern, die den Streitkräften und den Carabineros angehören, die schwere Zerrüttung der verfassungs- und gesetzmäßigen Ordnung der Republik auf Grund der in den vorgenannten Erwägungen Nr. 5 bis 12 aufgeführten Tatsachen und Umständen darzustellen;

Zweitens:

Ihnen ebenfalls vor Augen zu halten, daß sie auf Grund des geleisteten Eides, die Verfassung und die Gesetze treu zu befolgen, und im Falle dieser besonders angesprochenen Herren Minister angesichts der Beschaffenheit der Institutionen, denen sie als hohe Offiziere angehören und in deren Namen sie zu ihrer Eingliederung in das Kabinett angerufen wurden, sie dazu verpflichtet sind, die hier aufgeführten, zu Tatsachen herangereiften und gegen die Verfassung verstoßenden Situationen sofort zu beenden. Damit soll das Handeln der Regierung in rechtmäßige Bahnen gelenkt, die verfassungsmäßige Ordnung unseres Vaterlandes wiederhergestellt und die essentiellen Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens unter den Chilenen sichergestellt werden;

Drittens:

Zu erklären, daß, wenn sie so handeln, die Anwesenheit dieser Herren Minister in der Regierung der Republik einen wertvollen Dienst erweisen würde. Im entgegengesetzten Falle würden sie den nationalen und den professionellen Charakter der Streitkräfte und des Polizeikorps schwer gefährden und offen gegen das laut Artikel 22 der politischen Verfassung Verfügte verstoßen und den guten Namen ihrer Institutionen ernstlich kompromittieren, und

Viertens:

Seiner Exzellenz dem Präsidenten der Republik und den Herren Ministern für Wirtschaft, Nationale Verteidigung, Öffentliche Arbeiten und Transportwesen und für Staatsländereien und Siedlungswesen diesen Beschluss mitzuteilen.

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